Mittwoch, 9. Juli 2014

nette, alte Dame oder verbitterter Hausdrachen?



Bei mir auf dem Stock wohnt gegenüber Frau R. - auf den ersten Blick eine nette, alte Dame. Mitte 70, klein, zierlich, grau Haare. Genau so könnte auch eine liebevolle Grossmutte aussehen, meine Nachbarin aber ist alles andere als das. Weder liebevoll noch Grossmutter. So grundsätzlich ist sie nett, sie grüßt höflich aber da hört es auch schon auf. Sie hat die Hausordnung ebenso wie das Vaterunser verinnerlicht, die Kehrwoche hat bei ihr den Stellenwert des Kirchenbesuchs. Sie ist sehr pingelig, um nicht zu sagen kleinlich und achtet penibel auf ihre Privatsphäre. Nach bald sieben Jahren, die ich nun Tür an Tür mit ihr wohne, weiss ich noch immer nicht mehr von ihr als dass sie alleine lebt. Freundlichkeit überfordert sie. Als ich ihr an meinem ersten Bajram im Haus Baklava vorbeibrachte, fragte sie mich allen Ernstes, was sie mir schuldet. Alles, was sie nicht angeht, ignoriert sie mit der Begründung, in ihrem Alter dürfe sie sich nicht aufregen, wegen ihrem Herz. Meine Nachbarin gehört zu denen Menschen, von denen man immer weder liest und hört, dass sie in ihrer Wohnung sterben und es Wochen dauert, bis sie jemand findet. Anfangs hatte ich sie unter "blöde Kuh" abgestempelt und nach dem Motto "Toleranz durch Ignoranz" abgehakt, bis ich eines Tages merkte - sie hat Angst. Angst vor mir, die ich keine Deutsche bin, Angst vor meinen Mädels, die Kopftuch tragen, Angst vorm schwarzen Mann. Und seitdem fällt es mir schwer, böse auf sie zu sein, im Gegenteil manchmal tut sie mir einfach leid.
An der Stelle wundert man sich vielleicht, wieso ich so viel über meine Nachbarin schreibe. So kurz vor dem 11.07. ist Srebrenica und Europas Rolle darin ein grosses Thema und wäre Europa ein Mensch, dann wäre Europa wie meine Nachbarin. Die nette alte Damen, auf den ersten Blick liebevolle Grossmutter, auf den zweiten Blick ignoranter, verbitterter Hausdrache und Angsthase.  Und genau so sehe ich  Europa in Bezug auf Bosnien, angefangen beim Krieg bis hin zur jüngsten Flutkatastrophe.
Eine liebevolle Grossmutter würde einem Kind, das hinfällt die Schurfwünde reinigen, ein Pflaster draufkleben und es trösten, der Hausdrache würde das Kind beschimpfen, wieso es weint.
EIne liebevolle Grossmutter ist der weise, gutmütige Fels in der Brandung, der Hausdrache brennt mit einer Flamme aus dem Maul alles nieder.
Eine liebevolle Grossmutter kennt jedes Nachbarkind beim Namen, vor dem Hausdrachen rennt jedes Nachbarkind davon.
Europa erinnert mich an genau diesen Hausdrachen und zwar in einer Zeit in der das junge Bosnien mit seinen 21 Jahren eine weise Grossmutter mit ihrer Hilfe, Trost und Ratschlägen dringend bräuchte...
Und während die liebevolle Grossmutter im Kreise ihrer Liebsten in Würde altert und vom Leben Abschied nimmt, wird der Hausdrachen vereinsamt sterben, in der Hoffnung, dass jemand die Leiche findet, bevor sie zerfällt und anfängt zu stinken...

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