Freitag, 23. Oktober 2015

egal, wie lange man bleibt - es ist immer zu wenig - 1. Teil







dieses Mal fange ich mit dem Ende an:

Nach vier Wochen Urlaub in Bosnien und drei ziemlich stressigen Wochen hier sitze ich nun endlich wieder am PC und arbeite an meinem Reisetagebuch. Eigentlich wollte ich davon schreiben, wie wunderschön doch Bosniens Landschaft, wie interessant Bosniens Geschichte ist, was man gesehen haben muss, wenn man Sarajevo, Mostar usw. besucht, doch dieses Mal kriege ich es nicht hin. Denn mein Urlaub war kein Urlaub im klassischen Sinne, es war vielmehr eine Flucht vor dem alltäglichen Chaos, vor dem schwarzen Loch nach meiner Kündigung, meine Suche nach innerem Frieden. Es liegen sehr intensive Momente, Begegnungen, Gespräche hinter mir, weswegen das wahrscheinlich mein bislang emotionalster, persönlichster Text wird. Seht mir bitte an der einen oder anderen Stelle den typischen Balkan-Pathos nach  und verzeiht mir, falls ich das Wort Seele zu oft benutzen sollte :-)

keine Geschenke...

... nehme nur meinen Pass, Geld, eine Tasche und meine Lieblings-CDs mit. Die Tage vor meiner Abreise sind geprägt von Vorfreude, Unruhe und Ungeduld. Als ich mittags losfahre, scheint die Sonne und ich freue mich, wie ein kleines Kind. In Gedanken sitze ich schon bei meiner Tante im Garten, esse ihre Palacinke mit selbstgemachter Pflaumenmarmelade, trinke Kaffee in der Stadt und beobachte den Sonnenaufgang über den Hügeln von Blagaj. 
1300 Kilometer Fahrt liegen vor mir und mit jedem Kilometer, den ich fahre, kommen die Erinnerungen und Momentaufnahmen wieder: Mini me, hinten in einem vollbepackten Auto, der Kofferraum voller Koffer, Alditüten mit Süßigkeiten, Persil, neben mir sitzt mein Bruder mit seinem Walkman, Bijelo Dugme läuft, meine Mutter, die meinen Vater zum hundertsten Mal fragt, ob er die Pässe, seinen Führerschein und das Geld hat, mein Vater, der die Frage mit stoischer Ruhe zum hundertsten Mal mit Ja beantwortet und sich dann wieder aufs Fahren konzentriert, während er Safet Isovic hört und ich freue mich auf meine Cousins und Cousinen, aufs Baden in der Neretva, auf Freiheit. 
Scheisse, denke ich mir, während ich durch den Karawanketunnel fahre, wann und warum habe ich dieses Gefühl der Freude verloren? (Eine Frage, die mich durch Slowenien beschäftigte und ich mir dann endlich drei Wochen später beantworten konnte, dazu später mehr) 1300 Kilometer alleine im Auto führen zwangsläufig, dazu sich Gedanken zu machen, die man im Alltag gerne verdrängt und so gerne ich in Gesellschaft bin, so sehr geniesse ich diese Gelegenheit, mal im Kopf "auszumisten", einen Alltag, der was von einem Hamsterrad hat, geprägt von Leistungsdruck, Stress, nicht erreichten Umsätzen, zwischen PC, Kindergarten und Herd hinter sich zu lassen, durchzuatmen...
Nach 19 Stunden nähere ich mich Bosnien, an der Ausfahrt Novska fahre ich an Jasenovac vorbei, es ist Nacht, die Strassen leer. Zu meiner linken Seite sieht man hell erleuchtet "Die steinerne Blume". Ich fahre rechts ran, zünde mir eine Zigarette an und während ich das Mahnmal betrachte, schnürt sich mein Magen zusammen. So harmlos "Die steinerne Blume" aussieht, so bedrohlich und unheimlich wirkt sie auch, kennt man die Geschichte dazu: "Die steinerne Blume" ist ein Denkmal für die Opfer des Konzentrationslagers Jasenovac, entworfen von Bogdan Bogdanović, erbaut 1966. Ein weiterer trauriger Beweis dafür, dass der Mensch sich selber der grösste Feind ist...
Zum KZ selber sagt Wikipedia folgendes: 
Das Konzentrationslager Jasenovac (serbokroatisch Koncentracioni logor Jasenovac, Концентрациони Логор Јасеновац; Jiddisch: יאסענאוואץ; Hebräisch: יסנובץ‎), benannt nach dem in der Nachbarschaft gelegenen Ort Jasenovac, war während des Zweiten Weltkriegs das größte Sammel-, Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslager im faschistischen Unabhängigen Staat Kroatien (NDH) sowie eines der größten in ganz Europa. Es war das einzige Vernichtungslager im Zweiten Weltkrieg in Europa, in dem ohne deutsche Beteiligung planmäßig gemordet wurde. In Jasenovac starben größtenteils Serben, aber auch zahlreiche Juden und Roma, sowie Regimegegner, darunter auch Kroaten und bosnische Muslime.
Der von der Ustascha zwischen 1941 und April 1945 geleitete Lagerkomplex, kurz unterhalb der Mündung der Una in die Save 95 km südöstlich von Zagreb gelegen, bestand aus insgesamt fünf Nebenlagern und drei kleineren Lagern. Zu den Lagern gehörten drei Kinderkonzentrationslager: KZ Sisak als größtes, KZ Gornja Rijeka als kleinstes sowie das KZ Jastrebarsko. Angaben, nach denen die Gesamtfläche des Komplexes bis zu 240 Quadratkilometer betrug, sind fragwürdig, weil unklar bleibt, was dabei unter „Komplex“ verstanden wird.

Mit diesem unguten Gefühl im Magen und ziemlich morbiden Gedanken fahre ich weiter, es ist nicht mehr weit bis zur Grenze und das einzige, was ich in diesem Moment brauche ist ein heisser Kaffee. Es dämmert langsam, die bosnische Flagge weht über dem Grenzhäuschen und ich werde ich von einem für mich viel zu gut gelaunten Grenzpolizisten begrüsst, der sehr überrascht davon zu scheint, dass eine junge Frau sich alleine auf so einen weiten Weg macht. Sein "sretno" und sein Lächeln versüßen mir den Moment, der kurz darauf auch schon wieder vorbei ist, als mir von Riesenplakatwand das Sackgesicht Dodik entgegenlächelt und im Radio als erstes Turbofolk kommt. Willkommen in Bosnien! 
Nein, denke ich mir, das ist nicht das Bosnien, das ich kenne und liebe! Das Bosnien, das ich liebe, sind nicht die drei Buchstaben einer nationalistischen Partei oder nur "selam alejkum", "gepriesen sei Jesus" oder "hilf Gott". Das Bosnien, das ich liebe, ist der Sevdah, der Sonnenuntergang über der Alten Brücke in Mostar, der Sonnenaufgang über der Una,  es ist der Moment in Sarajevo, wenn der Muezzin zum Gebet ruft, während in der Nachbarschaft Kirchenglocken läuten. Das Bosnien, das ich liebe, sind die Menschen, so anstrengend sie für den Deutschen in mir manchmal sind, voller Herzlichkeit, voller Wärme, die einen grausamen Krieg überlebt, eine Naturkatastrophe überstanden haben und jeden Tag aufs Neue kämpfen. Die erste Stadt, durch die ich durchfahre ist Prijedor ein kleines Städtchen, das nach Srebrenica ein weiteres trauriges, bitteres Beispiel für die Grausamkeit des Bosnien-Krieges ist. Ich hole mir meinen heissersehnten Kaffee und fahre weiter, nach Prijedor fängt mein Glückspiel an. Als Teil der Republika Srpska sind die meisten Ortsschilder in kyrillisch, sodass für mich, die ich nur noch vereinzelte Buchstaben kenne, die Fahrt durch diesen Teil Bosniens ein fröhliches Rätselraten ist, das jedes Mal irgendwie funktioniert, bis auf ein Mal als ich vor Jahren mit einer Freundin unterwegs war und wir nachts auf dem Militärflughafen in Laktasi landeten. Heute lache ich über diese Geschichte, aber glaubt mir, damals kurz nach dem Krieg, war uns beim Anblick der Soldaten, mit ihren Gewehren über den Schultern, alles andere als nach Lachen zumute. 
Die Sonne geht auf, ich fahre weiter nach Sanski Most, erster Stopp, Familie besuchen, mein Kind abholen. Meine Schwägerin ist schon wach, macht ersteinmal bosnischen Kaffee und schon der Duft der kahva fühlt sich wie ankommen an... meine Kleine schläft noch und so trinke ich den ersten in einer Reihe unzähliger Kaffees. Fünf kahvas, eine Portion Cevape und eine Sampita später bin ich zu aufgedreht, zu unruhig zum Schlafen, ich schnappe mir mein Kind und wir fahren weiter nach Mostar. Auf der Landstrasse, kurz nach Sanski Most, sehnt sich der Deutsche in mir nach der guten alten Strassenverkehrsordnung. Vor uns fährt ein LKW mit grossen Holzstämmen, die Holzstämme ungesichert, schwanken fröhlich von links und rechts und bei jedem Schwanken wird mir kurz schlecht, sehe ich sie doch fröhlich vom LKW fliegen aber oh Wunder nichts passiert und ich lache über mich selber. Die Strecke nach Mostar wird zu einer kreativen Herausforderung und Zerreissprobe für meine Nerven- ich merke, ich bin schon lange hier nicht mehr Auto gefahren :-)

Übermüdet, genervt, doch dafür noch relativ entspannt, freue ich mich als ich kurz vor Jablanica das grüne Wasser der Neretva schimmern sehe, die Sonne scheint über den Bergen, die sich majestätisch erheben und jetzt will ich nur noch eins: nach Hause... 


 denn "mit Mostar ist es anders, von ihm verabschiede ich mich nie.Du kannst Mostar zwar verlassen, aber Mostar verlässt Dich nicht. Mostar geht Dir unter die Haut, fliesst in Deinen Adern, vereint sich mit Dir, ohne dass es Dir bewusst wird. Und dann es ist zu spät, die Sentimentalität zieht Dich für immer in die Richtung Deiner Heimat an den Ufern der Neretva. " sagte mal Aleksa Šantić, geboren am 27.05.1868 in Mostar.

endlich durchatmen ...

In Blagaj, 13 Kilometer von Mostar entfernt, steht das Haus meiner Eltern- das Haus, das ich ehrlich gesagt oft genug verflucht habe, vor allem als mein Vater starb und doch freue ich mich jetzt darauf... Der erste, der mich in Blagaj begrüßt ist der "liegende Polizist" eine Bodenschwelle auf dem Fahrweg, dazu gedacht, Rasern Einhalt zu gebieten und Fahrer mit tiefergelegten Prollautos zu quälen.Doch wie so vieles im Leben ist auch hier alles nur eine Frage des Gefühls und der Technik :-) Blagaj ist offiziell eine Stadt, ab 1446 regierten die Osmanen in der Stadt. Gemäß der osmanischen Besiedlungslogik wurde die herzegowinische Stadt in fünf Mahala (türk.: Mahalle=Stadtbezirke) eingeteilt. Bis 1835 waren der überwiegende Teil der Bewohner Blagajs Muslime. Zur Zeit der Herrschaft Österreich-Ungarns wurden wieder größere christliche Bewohner nach Blagaj umgesiedelt. Daher sind die Kirchen in der Regel neueren Datums.

 Doch in Wahrheit ist Blagaj ein kleines Dorf im ewigen Dornröschenschlaf mit einer Hauptstrasse, aus der die Seitengassen abgehen, den obligatorischen Cafes an jeder Ecke, der Buna, einem kleinem Fluss, einem Campingplatz, kleinen Tante Emma Läden und einem Friedhof. An dem halten wir und besuchen das Grab meines Vaters. Meine Kleine schaut mich fragend an, nicht wissend, warum mir auf einmal die Tränen kommen. "Mama erzählt es Dir, wenn Du gross bist, Schatz" ist das einzige, was mir in dem Moment einfällt. Hinter mir höre ich eine Hupe, als ob er  geahnt hätte, wann ich komme, hält mein Cousin an und steigt mit einem breiten Grinsen aus dem Auto. Mein Cousin ist ein süßer, lieber Chaot, 40, geschieden, zwei Söhne, seine Jugend hat er im Krieg verbracht, etwas das ihn fürs Leben geprägt hat und unter dem er heute immer noch leidet. Er nimmt mich in den Arm und es fühlt sich genau so an, wie früher, als wir Kinder waren, nichts, wirklich nichts hatte sich zwischen uns verändert...Er will abends grillen, meine Aussage, ich wäre müde, lässt er nicht gelten und er hat recht, Schlaf wird überbewertet. Endlich kommen wir zu Hause an, vom quitschenden Garagentor aufmerksam geworden, kommt meine Mutter vor die Tür, empfängt uns mit offenen Armen und einem Lächeln. Sie hat sich Sorgen gemacht, sagt sie und im gleichen Atemzug die Frage, ob wir Hunger hätten. Meine Kleine rennt ihr entgegen und für einen Augenblick habe ich das Gefühl, Mini me rennt der Grossmutter in den Arm. Dusche, Powernapping, Umziehen und schon wieder die Hupe, mein Cousin wartet auf mich. Wir fahren zu seinem Wochenendhaus, das inzwischen fertig ist und ich bin begeistert. Ein kleiner Garten vorm Haus, eine Veranda, drinnen Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer, Bad und offene Küche. Während wir das Essen vorbereiten, sage ich halb im Scherz: "hier ziehe ich ein!" woraufhin er mich entgeistert ansieht und meint "Red keinen Scheiss, alle wollen hier weg und du willst hier leben?" Und in diesem Moment spüre ich, auf welch dünnem Eis ich mich befinde, wie jeder von uns, der in der Dijaspora lebt. Jemanden, wie meinem Cousin, der ein Viertel meines Einkommens aber fast genauso hohe Ausgaben wie ich hat, der vom Staat enttäuscht ist, weil er als Soldat, der ebendiesen Staat verteidigt hat, nicht geschätzt und vergessen wird usw. müssen doch meine Sorgen und Nöte wie Luxusprobleme vorkommen, denke ich mir. Seine Freunde kommen, eine lustige Runde, doch irgendwann mal fällt im Gespräch eine Aussage, die ich schon so oft gehört habe und inzwischen hasse: Du hast es leicht, du lebst in Deutschland. Oh nein, mein Freund, vielleicht habe ich es leichter, aber leicht ist es deswegen noch lange nicht...

Schlaf wird zwar überbewertet, trotzdem tut es gut auch mal auszuschlafen. Am nächsten Morgen weckt mich meine Kleine mit ihrem fröhlichen Singsang und die Sonne scheint. Ich mache mir eine kahva, setze mich auf den Balkon und geniesse den ersten Zug an meiner Zigarette, den ersten Schluck des Kaffees. Das Glück liegt in den kleinen Dingen...





 
Komm! Komm! Wer du auch bist! Wenn du auch Götzendiener oder Feueranbeter bist.
Komm wieder! Dies ist die Tür der Hoffnung nicht der Hoffnungslosigkeit.
Auch wenn du Tausendmal dein Versprechen gebrochen hast. Komm! Komm wieder! 
Rumi





 

 

 


 



Der erste Weg des Tages führt mich zur Tekija in Blagaj, im 15. Jahrhundert von den Derwischen der Halweti-Tariqa erbaut, heute von den Derwischen des Naqschibandi-Tariqa betrieben. Die Tekija an sich ist kein Kloster im klassischen Sinne, vielmehr diente sie als Rückzugsort des Ordens und bot Reisenden und Hilfesuchenden Schutz und Asyl. Die Derwische lebten einst dort, bescheiden geradezu, asketisch und demütig. Sie dienten Gott, indem sie den Menschen dienten. Auch heute noch werden zu bestimmten Anlässen Dhikr-Zeremonien (Zikr auf bosnisch) abgehalten, in denen Gott gehuldigt und mit seinen schönsten Namen gepriesen wird.
Schon der Weg dahin, beruhigt mich ungemein. Für mich ist die Tekija definitiv einer der schönsten, ruhigsten Orte dieser Welt, voller Kraft und positiver Energie. Ich bleibe kurz stehen, betrachte sie, wie sie da steht, die Berge ragen empor als würden sie die Tekija und die Bewohner beschützen und rechts von mir der Fluss Buna, Touristen laufen an mir vorbei, strömen in die Restaurants am Ufer, manche lachen, manchen setzt die Hitze zu, 40 und mehr Grad sind tatsächlich nicht jedermanns Sache.
Ich gehe weiter, langsam und mit jedem Schritt tauche ich in meine ganz eigene Welt, mit jedem Schritt fällt ein bisschen der Stress, das Chaos, die Hektik von mir ab. Ich durchquere den Hof, gehe rüber zum Balkon und den Treppen an der Quelle des Flusses. Setze mich hin und halte meine Füsse ins einskalte Wasser. Ich habe Glück, es sind gerade kaum Touris da, so dass ich die Ruhe geniessen, dem Plätschern des Flusses zuhören und meinen Gedanken nachhängen kann.
Die Mauern des Hauses, die Quelle, jeder Kopfstein im Hof und die Bäume, die den Schatten spenden,
sind stille Poeten, denke ich mir, die als Beweis dafür dienen, wie sehr Gott doch das Schöne liebt....



















Und während ich meine kahva trinke, ruft der Muezzin zum Mittagsgebet. Ich bete, nicht weil es meine Pflich ist, sondern weil ich dankbar bin. Dankbar dafür, dass ich jetzt in diesem Augenblick hier bin. Dafür, dass es meinen Liebsten gut geht. Dafür, dass mein Leben, egal wie chaotisch es auch sein mag, gut ist, genau so wie es ist.

Warum hast Du schon wieder abgenommen?

Nachmittags besuche ich meine Tante Sevda, die mit dem BMI. Wie erwartet und vermutet, dauert es keine zwei Minuten bis diese Frage fällt. Und dann mach ihr mal klar, dass Du sogar zugenommen hast. Immun gegen jede Aussage dieser Art, zaubert meine Tante in nicht mal 20 Minuten Palacinke auf den Tisch und einmal mehr weiss ich, warum ich sie so über alle Maßen liebe :-) Auf dem Foto unten sieht man Feigen, die meine Tante zum Trocknen ausgelegt hat, superlecker, wen's interessiert.



 











  

Und einmal mehr stelle ich bei der gefühlten 257. Kahva des Tages fest: 
Das Glück liegt in den kleinen Dingen...

 

 

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